Die Spielepresse hat Angst vor Sex – und schadet damit dem Medium

Die Sexspielbranche wächst beständig, aber Berichterstattung darüber findet kaum statt. Das hat negative Auswirkungen auf die Arbeit von Entwickler*innen, Journalist*innen und das Medium an sich.

Die Spielepresse hat Angst vor Sex – und schadet damit dem Medium

Man stelle sich folgendes Szenario vor: Urplötzlich verschwinden zahlreiche Produkte von Steam, der größten Vertriebsplattform für digitale Spiele, und niemanden interessiert es. Was undenkbar klingt, ist Ende 2020 passiert, als Plattformbetreiber Valve beliebte Titel wie Ladykiller in a Bind unangekündigt aus dem deutschen Steam-Store entfernte. Zwar wurde das Thema von betroffenen Nutzer*innen in Online-Foren rege diskutiert, doch die Spielepresse hüllte sich größtenteils in Schweigen.

Grund dafür war sicherlich, dass der Bann keine kommerziell erfolgreichen Games wie Cyberpunk 2077 oder Red Dead Redemption 2 betraf, sondern Sexspiele. Die Verhältnis des Spielejournalismus zu sexuell expliziten Inhalten ist seit jeher ein kompliziertes, sie werden dort praktisch nicht besprochen. Darunter leiden vor allem Entwickler*innen und gerade jene ohne großen Publisher, der ihnen finanziell den Rücken stärkt.

Das Zwei-Personen-Team von Kaimaki Games arbeitet derzeit an der erotischen Visual Novel All Men Are Pigs. Obwohl die beiden auf Kickstarter immerhin 16.000 Dollar sammeln konnten – ein Achtungserfolg für ein bis dato unbekanntes Studio – hat kaum jemand darüber berichtet. "Unserer bisherigen Erfahrung nach bespricht die Mainstream-Spielepresse so gut wie keine Sexspiele. Unser Spiel wurde ein-, zweimal aufgegriffen, aber nur auf entsprechend spezialisierten Seiten", so Kaimaki Games. Den beiden Entwickler*innen zufolge sei es für Spiele mit LGBT-Fokus noch schwieriger, Aufmerksamkeit zu bekommen, bedingt durch die überwiegend heterosexuelle, männliche Zielgruppe solcher Webseiten. Daher rechnen sie damit, sich nach der Veröffentlichung ihrer Visual Novel auf Mund-zu-Mund-Propaganda verlassen zu müssen.

Zwar ist Sex in Spielen heute präsenter denn je, doch klassische Rezensionen sind hier rar. Wenn das Thema aufgegriffen wird, dann vor allem in Listicles über die besten oder schlechtesten Sexszenen aller Zeiten, Diskussionen über Zensur, oder News, die Sex als Feature in AAA-Games ankündigen, aber danach nie wieder aufgreifen.

"Der Umgang von Spielejournalist*innen mit Sexspielen ist extrem selektiv. Gibt es eine Kontroverse, wollen aber plötzlich alle mit dir reden", sagt Jay Acevedo, der als Communications und Marketing Manager für die Erotikspiele-Vertriebsplattform Nutaku tätig ist. Dabei hat die Erotik- und Sexspielindustrie weit mehr zu bieten als nur Skandale. Immer mehr Menschen finden in der millionenschweren Branche Jobs. Neben klassischer Pornografie für eine vornehmlich heterosexuelle und männliche Zielgruppe gibt es auch eine stetig wachsende Auswahl von Produkten für Frauen oder queere Menschen. Wie kann es also sein, dass dieser große Industriezweig einfach ignoriert wird?

Eine kleine Auswahl der Spiele, die von Nutaku vertrieben werden. Nur ein Bruchteil davon dürfte je rezensiert worden sein.

Zweierlei Maß beim Umgang mit Sex

Die Gründe dafür sind vielfältig, lassen sich jedoch fast alle auf einen zentralen Aspekt zurückführen. "Die gesamte westliche Gaming-Welt ist immer noch sehr, sehr konservativ, das gilt selbst für die eher progressiven Leute," fasst Ana Valens das Problem zusammen. Valens entwickelt Sexspiele, ist darüber hinaus aber auch als Journalistin tätig und daher bestens vertraut mit den Problemen, denen sich sex-positive Menschen in der Spielepresse ausgesetzt sehen. Denn selbst wenn Journalist*innen grundsätzlich bereit sind, sexuell explizite Inhalte zu besprechen, finden sie selten die Gelegenheit dazu. Große Webseiten und Magazine scheuen sich davor, Sexspielen eine Plattform zu bieten, weil sie andernfalls womöglich in eine "Schmuddelecke" gesteckt werden und Anzeigenkunden verlieren könnten.

Diese Sorge ist nicht unberechtigt, denn gerade in den USA – einem der größten Absatzmärkte für digitale Spiele und Sitz zahlreicher großer Gaming-Publikationen – gilt Sex nach wie vor als Tabu, obwohl er gerne für Marketingzwecke genutzt wird. Das Prinzip "sex sells" ist populär, eine intensivere Auseinandersetzung mit Sexualität hingegen unerwünscht. "Firmen können sexuelle Anspielungen nutzen, um Körperspray, Bidets, Schokolade, sogar Toilettenpapier zu vermarkten", fasst Jay Acevedo zusammen. "Eine Vertriebsplattform wie Nutaku, die offen und ungefiltert über sexuelle Inhalte spricht, wird dagegen gemieden. Diese Doppelmoral muss hinterfragt werden."

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