Für den Entwickler von Space Warlord Organ Trading Simulator ist Perfektion Nebensache

Die kommerziell erfolgreichsten Spiele sind oft die, in die besonders viel Zeit für Feinschliff investiert wird. Xalavier Nelson Jr. zeigt, dass sich das Unperfekte auch finanziell lohnen kann.

Für den Entwickler von Space Warlord Organ Trading Simulator ist Perfektion Nebensache
Quelle: Strange Scaffold

60 Spiele in fünf Jahren. Das klingt nach 24-Stunden-Tagen, nach gehirnfrittierendem Crunch, nach Selbst- und Fremdausbeutung. Zumindest dann, wenn man Videospiele als das begreift, was die AAA-Industrie vorlebt: Kaum steuerbare Projekte, an denen hunderte Menschen arbeiten, deren Entwicklung ganze Geldspeicher leer saugt und die manchmal erst nach 15 Jahren Entwicklungshölle erscheinen. Xalavier Nelson Jr. hat eine andere Herangehensweise an seine Spiele und kann trotzdem davon leben. "Jedes unserer Spiele hat die Entwicklungskosten wieder eingespielt, und das mit minimalem Crunch und maximaler Flexibilität", erklärt er. Nelson hat unter seinem Pseudonym Strange Scaffold als Narrative Designer, Autor und leitender Entwickler an Hypnospace Outlaw, Skatebird und An Airport For Aliens Currently Run By Dogs mitgewirkt. Zusammen mit einer kleinen Gruppe fester Kreativer wie dem Sound-Designer RJ Lake arbeitet er simultan an mehreren Spielen und ergänzt die kleine Gruppe je nach Projekt um neue Mitglieder, um flexibel zu bleiben. "Alle im Team können ihr Leben leben, obwohl Kreativität angeblich voraussetzt, dass du Opfer bringen musst."

Sein erstes Spiel, das auf der Gratis-Textadventure-Engine Twine basierende All Hail The Spider God, veröffentlicht der heute 24-Jährige im Juni 2016 nach einer Entwicklungszeit von zwei Wochen. Der Sohn eines US-Soldaten, der unter anderem in Südkorea und Italien stationiert ist, beschäftigt sich aber schon davor mit Videospielen. Erst ist er als Blogger unterwegs, später schreibt er für PC Gamer, Kotaku und das damals noch Gamasutra genannte Portal Game Developer. Die Arbeit als Journalist scheint ihn jedoch zunehmend zu desillusionieren. "Als ich älter wurde, wollte ich die Industrie eigentlich hinter mir lassen. Ich hatte genug Zeit, Zeuge der Burnout-Zyklen zu werden, die diese Branche zu befeuern scheinen", sagt er. "Ich wollte also nur ein Spiel machen und diesen kindischen Kram hinter mir lassen. Daraus resultierte All Hail The Spider God."

Schneller, besser, günstiger

Seitdem scheint Nelson wie besessen Spiele zu entwickeln, die auf dem Papier nichts gemeinsam haben. In Can Androids Pray tauschen sich Mech-Pilot*innen über Existentialismus und den Tod aus, An Airport For Aliens Currently Run By Dogs kontrastiert die Schwierigkeit, eine Fernbeziehung zu führen, mit albernen Stockfoto-Hunden, sein neuester Titel Space Warlord Organ Trading Simulator ist eine ekligere Version des Alltags an der Börse. Den roten Faden sucht man vergeblich. Es sei denn, man fängt schon bei der Konzeptionierung an. "Ich glaube fest daran, dass Spiele schneller, besser, günstiger und nachhaltiger entwickelt werden können als es im Großteil der Spieleindustrie gerade geschieht", erklärt Nelson. Das Wichtigste: Man müsse im Vorfeld fragen, ob das Spiel überhaupt notwendig sei. "Indem ich so viele Genres, Teamzusammenstellungen und Kreativkonzepte erkunde, baue ich nicht nur wirklich tolle Dinge mit extrem talentierten und tollen Leuten, sondern setze mich auch dafür ein, Spieleentwicklung anders anzugehen."

“Ich will keine perfekten Dinge in die Welt setzen, ich will mehr Dinge in die Welt setzen”
Xalavier Nelson Jr., der Entwickler von Space Warlord Organ Trading Simulator, will seine Zeit so effektiv wie möglich nutzen – und hat trotzdem seine und die Gesundheit seiner Mitarbeitenden im Sinn.
Neugierig auf die Arbeit von Xalavier Nelson Jr. geworden? Das ganze Interview mit ihm gibt's exklusiv für Mitglieder.

Über Microsoft zum Massenpublikum

Die Frage nach der Daseinsberechtigung seiner Games abseits des reinen Wunschs, irgendein Spiel zu veröffentlichen, hilft ihm dabei, in so kurzer Zeit so viele verschiedene Projekte zu verwirklichen. Deren Erfolg wiederum verdankt er auch der Unterstützung des Tech-Riesen Microsoft. Space Warlord Organ Trading Simulator erscheint beispielsweise direkt zum Launch im Xbox Game Pass und ist damit für geschätzte 23 Millionen Abonnent*innen nur einen Klick entfernt.

Das Vertrauen, das Microsoft kleinen Entwickler*innen wie Nelson entgegenbringt, ist nicht neu. Bereits 2013 startet ID@Xbox, ein spezielles Programm zur Förderung von kleinen Studios, mit dem sich die Firma nach ersten Gehversuchen mit Xbox Live Arcade und Xbox Live Indie Games ein größeres Stück vom Indie-Kuchen sichern will. Dafür bietet sie Teilnehmenden Zugriff auf die komplette Veröffentlichungsinfrastruktur auf PC und Konsole und damit die Möglichkeit zur Selbstveröffentlichung.

Beim großen Konkurrenten Sony gibt es offiziell erst seit 2019 eine eigene Indie-Abteilung, Nintendo führt seine "Nindies Showcases" 2017 mit der Veröffentlichung der Switch ein. Microsoft hat sich, Gewinnorientierung hin oder her, schon früh als verlässlicher Partner für Indies etabliert und laut Firmenangaben über 2.000 Spiele veröffentlicht und mehr als 1,5 Milliarden US-Dollar an Entwickler*innen ausgezahlt.

Laut Firmenangaben sind seit dem Start von ID@Xbox bis zum August 2020 über 2.000 Spiele aus dem Programm hervorgegangen. 

"Alles basiert auf Ausbeutung"

Dieses Vertrauen in Indies zeigt sich auch bei der Veröffentlichung von Space Warlord Organ Trading Simulator über den Xbox Game Pass. "Sie fragten mich nur, ob das Spiel fragwürdige Inhalte haben würde", erklärt Nelson. "Ich verneinte, und sie gaben uns die Freiheit, unsere kreative Vision in allen Nuancen zu erkunden." Zu dieser Vision gehört auch, aktuelle Beobachtungen in völlig absurden Spielerfahrungen zu verarbeiten. Der erbarmungslose Handel mit Alien-Organen mag witzig sein, hat laut Nelson aber auch viel mit dem heutigen Turbokapitalismus zu tun. "Alles, vom Strom, der unsere Unterhaltung ermöglicht, bis zum Herstellungsprozess der Bleistifte, die du nutzen würdest, wenn du dich im Wald von der Zivilisation abkapseln willst, basiert auf irgendeiner Form von Ausbeutung", so der Entwickler. "Ich denke also nicht, dass Space Warlord Organ Trading Simulator sonderlich kurios ist. Es ist eher allgemeingültig."

Wenn es nach Nelson geht, will er seine gesellschaftskritischen Kommentare in so vielen Medienformaten wie möglich realisieren. Derzeit arbeitet er mit wechselnden Künstler*innen an einer Strange-Scaffold-Comicreihe, für den kommenden Neo-Noir-Shooter El Paso, Elsewhere, nimmt er mit Kollaborateur*innen eine Rap-Platte auf, auch Film und Fernsehen hat der Entwickler auf seiner Wunschliste. Perfektion ist für ihn dabei Nebensache. "Selbst wenn das Ergebnis seine Mängel hat, der Prozess, den du als Mensch bei seiner Erschaffung durchmachst, wird bei jedem Mal besser, so lange du nicht dein Leben und das deiner Kolleg*innen zerstörst", sagt er. "Mein bestes Spiel wird immer genau das Spiel sein, an dem ich als nächstes arbeite. Ich hoffe, das bleibt so, bis mir die Projekte ausgehen." Selbst wenn Nelson in den nächsten fünf Jahren nicht auf 60 weitere Spiele kommen sollte, seine unorthodoxe Herangehensweise an die Spieleentwicklung wird bleiben.