Graffiti macht Spiele lebendig, aber da geht noch mehr
Graffiti ist ein simples Werkzeug des Environmental Storytelling in Spielen. Aber es ist noch so viel mehr. Ein Blick in die Geschichte von Graffiti in Games.
"God is dead" – so steht es an einer Wand in Dying Light 2, drangeschmiert mit schwarzer Sprühfarbe. Draußen an den Mauern rund um die Kirche, in der sich die Überlebenden der Zombie-Apokalypse verschanzt haben, ziehen sich bunte Malereien von Tieren und Pflanzen rundherum. Nur: Jenseits der Mauern wartet der Tod.
Dying Light 2 nutzt Graffiti so wie viele andere Spiele zum Environmental Storytelling, also als Element, über das die Umgebung selbst Geschichten erzählt. Sprühbotschaften auf Wänden in postapokalyptischen Spielen berichten vom Untergang in The Last of Us, dem kollektiven Abgleiten in den Wahnsinn in BioShock oder schlicht dem Ende aller Hoffnung in Dying Light 2. Graffiti sind in Spielen so fast schon zum Klischee geworden. Dabei wird ihr ganzes Potential noch gar nicht genutzt.
Graffiti als Zierdeckchen
In Street Fighter zeigt 1987 schon der Startbildschirm ein Graffito – den türkisen Schriftzug "Capcom" auf einer Mauer, die im nächsten Moment von einer Faust in Richtung Spieler*in durchbrochen wird. Das Graffito scheint hier die insgesamte toughe Coolness des Kampfspieles unterstreichen zu wollen und steht für Typen, die Straßenkämpfe austragen.
Der Schritt vom Street Fight zur Street Art ist da nicht weit. Graffiti taucht auch in manchen Kampfszenen im Spiel auf. Im USA-Level prügelt man sich auf einem Zugdepot in New York City, im Hintergrund bemalte Züge, auf einem steht "Funky". Auch der Titelscreen des Arcade-Games Renegade von 1986 ist ein Graffiti. In roter Farbe steht "Renegade" auf einer Mauer, flankiert von einem Totenkopf, darunter zerbeulte Mülltonnen. Mehr Street geht eigentlich nicht.
Trotzdem ist laut Carlos Lorente, Graffiti-Künstler und Gründer der Style Scouts Academy, noch Luft nach oben. "In den meisten Spielen dient Graffiti ja immer noch nur als Dekoration, nicht als Spielelement", sagt er. "Reines Parolen-Graffiti finde ich eher sub-spannend", so Lorente. Ein Fan der Arcade-Prügler der 80er-Jahre ist er daher wohl nicht. Für ihn ist Graffiti mehr als "Renegade" und "Funky": "Mich persönlich interessiert da eher der ästhetische Aspekt."
Lorente ist Mitte der 1990er Jahre in Barcelona zur Graffiti-Kunst gekommen und gibt seit 1998 auch Workshops zum Thema. Mit der StyleScouts Academy will er Menschen Graffiti und Streetart näherbringen. Wichtig sei vor allem auch, Leute zu beauftragen, die sich auskennen. So wie den Street Artist Diego Bergia, der seit 2006 für einige Teile von Tony Hawk's Pro Skater Graffiti-Inhalte beigesteuert hat.
Storytelling mit Sprühfarben
In Spielen wie Dying Light 2, The Last of Us oder BioShock haben Graffiti als Elemente des Environmental Storytelling schon mehr Funktionen als bloße Deko. Slogans wie "God is dead" sind Fußnoten des Untergangs, eine Kommentarfunktion der implodierenden Gesellschaften. "Remember who we were" und "no hope" steht an den Wänden in The Last of Us. In BioShock zeugen Botschaften wie "We will be reborn" und "Ascension is near" von der um sich greifenden Paranoia in Rapture.
Die Graffiti erzählen als Storytelling-Element, was war und was ist. Das sorgt für Stimmung und hat durchaus Durchschlagskraft. Im Antikriegs-Shooter Spec Ops: The Line kommt man in einem verfallenen Gebäude an einer Wandmalerei vorbei, die eine glückliche Familienszenerie zeigt. Nur: Über die Augen von Mutter, Vater und Kind ist schwarze Farbe geschmiert worden. Direkt daneben: In einer Reihe, auf Stühlen festgebunden, mit Säcken über den Köpfen, hingerichtete Soldaten. Blut an den Wänden.
Botschaften an Wänden können aber nicht nur Geschichten erzählen, sondern auch Hinweise zum Spiel geben. Im Horror-Shooter Dead Space etwa wird ein Wandgraffiti zum Tutorial "Cut off their limbs" – schneide ihre Gliedmaßen ab. Die Aliens im Spiel lassen sich nämlich nur durch sogenannte "strategische Zerstückelung" bekämpfen.
"Ich denke, dass man selbst nur mit Graffiti als Deko viel Atmosphäre schaffen und Botschaften platzieren kann", so Lorente.
Graffiti als zentrales Spielelement
Graffiti dient in Spielen als Wegweiser, Rätselelement oder Stimmungsmacher. Aber als zentrale Spielmechanik? Das ist selten – und schade, meint Carlos Lorente, denn diese Kunstform bietet sich für so ein zeitgenössisches Medium geradezu an. "Die Arbeit mit der Sprühdose ist reizvoll, weil man sehr intuitiv und sehr schnell arbeiten kann", sagt er. "Das passt gut in unsere heutige kurzlebige Zeit, in der man mit starken Botschaften und starken Farben auftreten muss, um aufzufallen."
Eines der ersten Spiele, das die Graffiti-Kunst ins Zentrum rückt, ist Jet Set Radio aus dem Jahr 2000. Im Game bewegen Spieler*innen sich auf Inlineskates durch Tokyo und hinterlassen Graffiti. Die Bilder sind vorgegeben, teils aber von bekannten Graffiti-Künstlern wie Eric Haze gestaltet. Und: Man kann seine eigenen Graffiti designen und mit anderen Spieler*innen auf der Sega-Webseite teilen. 2010 legt Sega das Spiel neu auf und veranstaltet im Zuge der Marketing-Kampagne einen Graffiti-Wettbewerb. Die besten Beiträge werden in die Neuauflage mit aufgenommen. Echte Graffiti-Kunst und Videospiele kommen endlich zusammen.
Mit Marc Ecko's Getting Up kommt 2006 ein weiteres vielbeachtetes Graffiti-Spiel auf den Markt. Vielbeachtet auch deswegen, weil Lizenzgeber Marc Ecko, Künstler und Gründer des Modelabels Ecko Unlimited, eine schillernde und umstrittene Figur der Graffiti-Szene ist. In einer Kunstaktion hinterlässt er 2006 sein Kürzel auf einer täuschend echten Kopie der Air Force One – und sorgt für Schlagzeilen. Auch deswegen ruft das Spiel gerade in den USA Graffiti-Gegner*innen auf den Plan.
In Australien darf das Spiel bis 2013 nicht verkauft werden, weil es angeblich zu illegalen Handlungen aufrufe – wenngleich im selben Jahr die frei verfügbaren Spiele Need for Speed: Carbon illegale Autorennen und Grand Theft Auto: Vice City Stories Verbrecherkarrieren zeigen. In Mark Ecko's Getting Up bewegt man sich hingegen akrobatisch durch die Großstadt und bringt Graffiti-Styles an möglichst schwindelerregenden Spots an. Das Beispiel zeigt, wie Graffiti – ähnlich wie Extremsportarten – häufig noch kriminalisiert wird.
Graffiti ganz ohne Gefängnis
Bei diesen Beispielen bleibt es nicht. Mit Kingspray erscheint 2010 das erste Graffiti-Spiel aus der Ego-Perspektive. Das wird aber erst bekannter, als die drei Graffiti-begeisterten Programmierer von Infectious Ape das Spiel 2016 für VR umsetzen. Das Ergebnis ist ein ultra-realistisches Spiel, in dem die noch feuchte Farbe an den Wänden schimmert. Das Ganze lässt sich im Multiplayer spielen, so lassen sich sogar Choreographien üben – für den Ernstfall. Auf Steam wirbt das Spiel dann auch mit einem echten Totschlagargument: "Creating amazing street art would be much more fun without the jail time, and now you can!"
Dieser Community-Aspekt ist etwas, was in den meisten Graffiti-Spielen zu kurz kommt. Denn, so Carlos Lorente: "Die Community-Kultur ist ganz wichtig. Man tauscht sich aus, durch die Kunst, durch die Beschäftigung mit Farben und Formen", sagt er. Es sei "eine nonverbale Möglichkeit, mit Menschen zusammenzukommen, die aus völlig anderen Kulturkreisen kommen. Graffiti ist eine sehr spannende Kultur und nicht nur einfach eine Richtung, wie man sich künstlerisch ausdrückt."
Quo vadis, Graffiti-Game?
Gerade in den letzten Jahren kommen weitere Indie-Spiele auf den Markt, die die Graffiti-Kunst in den Fokus nehmen. Wohl auch, weil dank kostenloser Engines wie Unity oder Vertriebswegen wie Steam die Spielentwicklung eine Demokratisierung erlebt und Nischenthemen dadurch einen Platz finden. So tauchen auch Spiele wie Bombing!!: A Graffiti Sandbox oder Graffiti Bombing auf, die zwar kaum Nutzer*innenrezensionen haben, aber dennoch eine Plattform bekommen. Und die Entwickler*innen des weitaus populäreren Umurangi Generation verstecken viele ihrer Aussagen in den Tags und Slogans, damit Spieler*innen sie fotografieren können.
Das Thema Graffiti wird insgesamt niederschwelliger, auch in der analogen Öffentlichkeit. "Ich glaube, dass sich das Thema Murals und Graffiti gerade in den urbanen Zentren immer mehr manifestiert, weil man erkennt, dass man mit der Gestaltung von Wänden Stadtteile bespielen und Geschichten erzählen kann. Deswegen wird das immer mehr genutzt", meint Graffiti-Künstler Carlos Lorente.
Die Graffiti-Geschichten in Games sind aber auch noch lange nicht auserzählt. "Ich fände etwa ein Storytelling-Spiel cool, in dem man in die Anfänge der Graffiti-Kultur der 1960er und 70er Jahre eintaucht und das miterleben kann", sagt Lorente, "oder ein Open-World-Game, in dem man zwar digital malt, das Produzierte dann aber auch analog nutzen kann, indem man sich etwa Styles als Schablonen oder Sticker ausdrucken kann, die man dann auch außerhalb des Spiels nutzt. Einfach nur ein Spiel zu machen, wo ich an den Zug gehe und den bemale, das finde ich persönlich eigentlich zu banal." Denn Graffiti-Kultur ist viel mehr.
Zusätzliche Bildquellen: Capcom, Techland, Devolver Digital