Diese Stars existieren nur auf YouTube

Animierte Avatare sind in Japan seit Jahren angesagt, das Geschäft mit der anonymen Unterhaltung ist lukrativ. Wie steht es nach zwei Jahren Pandemie um das Phänomen?

Diese Stars existieren nur auf YouTube

Sie streamen Videospiele und kommentieren diese. Sie werden für Werbedeals eingekauft. Sie bringen Musikvideos heraus. Sie erreichen damit ein Millionenpublikum. Was die Inszenierung angeht, teils auch die Popularität, unterscheiden sich VTuber*innen kaum von anderen Streaming- und Webvideostars. Und im Stil von Ninja, Shroud oder HandOfBlood tragen auch sie Fantasienamen. Namen wie Mori Calliope, Projekt Melody oder Gawr Gura.

Einen alles entscheidenden Unterschied gibt es aber: VTuber*innen sind keine echten Menschen. Sie sind Netzstars, die es wirklich nur im Netz gibt. Es sind digitale Persönlichkeiten, von Künstler*innen gestaltete Anime-Avatare. Avatare, die nicht als statisches Bild in Videos eingebunden werden, sondern so, dass sie die Lippenbewegungen und teilweise auch die Mimik ihrer Sprecher*innen live nachahmen.

In Internetjahren ist der VTube-Trend schon relativ alt. 2016 feierte ein Charakter namens Kizuna AI sein Debüt, der einer stereotypen weiblichen Anime-Figur mit großen Augen nachempfunden ist. Animiert wird die "erste Virtual YouTuberin der Welt" mittels Gesichtserkennungssoftware, erst 2020 wurde enthüllt, dass ihre Stimme zur Synchronsprecherin Nozomi Kasuga gehört.

Let’s Plays gehören auch bei VTubern zum Standardrepertoire, in diesem Fall zum Beispiel Portal 2.

Kizuna AI ist so erfolgreich, dass die Japan National Tourism Organization sie als Maskottchen für eine globale Werbekampagne einsetzt. Stand jetzt hat die virtuelle Streamerin auf ihren beiden YouTube-Kanälen knapp 4,5 Millionen Abonnent*innen, ihr Ganzkörpermusikvideo zum Song "Aiaiai" steht bei 17 Millionen Klicks, und im Mai 2020 bekam sie mit Kizuna Ai Co ihre persönliche Managementfirma. Trotz dieser Erfolge beendete die VTuberin im Februar 2022 ihre Karriere.

Die Technik hinter den virtuellen Charakteren

Auf den ersten Blick überrascht so ein Erfolg: Influencer*innen gelten doch gerade deswegen als so beliebt und nahbar, weil sie sich als authentische Persönlichkeiten präsentieren. VTuber*innen hingegen sind offensichtlich Kunstfiguren mit ausgedachten Charakterzügen.

Ein wichtiger Faktor aber ist die große Beliebtheit japanischer Popkultur: Statt sich nur passiv mit Anime, Manga oder J-Idols zu beschäftigen, können Fans über die VTuber*innen live mit einem virtuellen Abbild interagieren – und sie bekommen sofort Antworten auf ihre Fragen. Die Anonymität der Streamenden ermöglicht es den Menschen hinter VTuber*innen zudem, ihre Charaktere auf nicht jugendfreien Portalen wie Pornhub oder Chaturbate zu platzieren und trotzdem keine Kontroversen oder Imageschäden zu riskieren.

Technisch gesehen liegt die Einstiegshürde für VTuber*innen nicht viel höher als beim Einrichten eines normalen Let’s-Play-Kanals. Mehr als eine Webcam und eines von zahlreichen, teilweise gratis verfügbaren Programmen wie Luppet oder VMagicMirror braucht es neben den üblichen Streaming-Utensilien nicht – vorausgesetzt, man hat sich bereits ein Modell des Wunschcharakters anfertigen lassen und möchte nicht mehr als Schultern und Gesicht zeigen. Nur wenn es ein virtueller, animierter Ganzkörperavatar sein soll, werden oft eine teure VR-Ausrüstung und ein spezielles 3D-Modell fällig.

Mit Programmen wie VMagicMirror lassen sich VTuber*innen-Avatare erstellen und in gängige Streaming-Software einbinden.

Die meisten VTuber*innen stammen nach wie vor aus Japan. Dort gibt es große Agenturen wie Hololive, ein Unternehmen, das Figuren wie Mori Calliope oder Gawr Gura mit Abonnent*innenzahlen in Millionenhöhe vertritt und mittlerweile Inhalte auf Indonesisch, Englisch und Japanisch anbietet. Über die Mutterfirma Cover Corporation flossen bis April 2020 rund neun Millionen US-Dollar von externen Investor*innen in das Geschäft mit VTuber*innen.

Die Relevanz der VTuber*innen ist auch bei YouTube bekannt: In einer Trend-Erhebung von Oktober 2020 führte das Portal die Kunstfiguren als gesonderten Punkt auf – mit 1,5 Milliarden gestreamten Stunden pro Monat.

Noch ist Deutschlands VTuber-Szene überschaubar

Mit rein virtuellen Webstars lässt sich also jede Menge Geld und Aufmerksamkeit generieren. Das hat zu Gründungen ambitionierter Agenturen auch außerhalb Japans geführt. VShojo beispielsweise wurde Ende November 2020 von einem Mitgründer von Twitch ins Leben gerufen. Deren VTuberin Ironmouse wurde im Februar 2022 mit 75.000 Twitch-Abonnent*innen die erfolgreichste weibliche Streamer*in auf dem Portal, mit einer jüngsten Investitition von 11 Millionen US-Dollar im März 2022 will die Firma ihre Präsenz auf Anime- und Gaming-Messen ausbauen.

Im Vergleich dazu wirkt die deutsche Szene abgeschlagen. Das laut eigenen Aussagen "größte VTuber Netzwerk im deutschsprachigen Raum" VirtualLifeDE existiert beispielsweise seit Frühjahr 2021, kann aber nicht mehr als ein paar hundert Follower*innen auf Social Media aufweisen. Wenn VTuber*innen aus Deutschland erfolgreich sind, streamen sie meist auf Englisch wie beispielsweise Mocca Liebeskind mit seinen knapp 15.000 Twitch-Follower*innen.

Auch wenn wirklich große deutschsprachige VTuber*innen fehlen: Der Trend rund um ansprechbare Avatare hat die Pandemie erfolgreich überdauert. Ob sich VTuber*innen auch in Deutschland als lukratives Geschäftsmodell etablieren können, wird sich zeigen müssen.

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Dieser Artikel ist zuerst am 27. Dezember 2020 bei Spiegel Online erschienen und wurde mit aktuellen Zahlen ergänzt.