Am Anfang des Gachapon-Phänomens war die Schokolade

Gachapon-Maschinen sind ein fester Teil japanischer Kultur. Ihre Wurzeln haben sie in einer geschickten Marketingkampagne ganz ohne technische Komponente.

Gachapon-Maschinen im Vordergrund, im Hintergrund ein Reh.
Gachapon-Maschinen mitten im Nara-Park. (Quelle: Eigenes Foto)

Dass die Spieleindustrie ohne Mobile Games besonders aus ökonomischer Sicht ärmer wäre, zeigen Spiele wie Genshin Impact. Laut AppMagic generierte das Free-To-Play-Rollenspiel allein 2023 weltweite Einnahmen von einer Milliarde US-Dollar. Kern des Spiels ist seine gacha-Mechanik, bei der Ingame-Währung eingesetzt wird, um zufällige Gegenstände und Charaktere aus einem virtuellen Lostopf zu ziehen.

Dabei wurde gacha nicht in Videospielen erfunden, obwohl das Medium es heute auch in westlichen Ländern bekannt gemacht hat. Die ursprünglichen Gachapon-Kapselmaschinen aus Japan existieren seit 1965. "Gachapon-Großvater" Ryuzo Shigeta importierte damals einen Münzautomaten aus den Vereinigten Staaten und modifizierte die Preise, indem er sie in Plastikkapseln legte. 

Genau diese Plastikkapsel gibt Gachapon ihren Namen: gacha oder gasha bezieht sich auf das Geräusch beim Kurbeln der Maschine und pon auf das Fallen der Kapsel in die Auffangschale. Der lautmalerische Ausdruck in einem Wort macht Gashapon zu einem sogenannten Onomatopoetikum, also Wörter, die akustische Eindrücke wiedergeben und typisch für die japanische Sprache sind. 

Woher kommen Gachapon-Maschinen? 

"Gachapon-Maschinen hat man ursprünglich an zwei Orten gefunden: In Supermärkten oder in Shoppingzentren", erklärt Bryan Hikari Hartzheim. Hartzheim ist Professor an der Waseda-Universität in Tokio und hat sich auf die Geschichte und Kultur neuer Medien in Japan spezialisiert. "In Shoppingzentren waren sie oft auf dem obersten Stockwerk zu finden. Da gab es zum Beispiel Spielplätze, wo die Eltern ihre Kinder lassen konnten, während sie einkaufen waren. Dann gab es noch dagashiya, Läden, die sehr günstige Süßigkeiten verkauft haben, und häufig Gachapon vor ihren Geschäften hatten, um vor allem Kinder anzulocken." 

Eingang einer Retro-Einkauffstraße im Tokioter Stadtteil Odaiba
Der Eingang zur Daiba-1-Chome-Einkaufsstraße, inklusive Retro-Getränkeautomaten. (Quelle: Eigenes Foto)

Obwohl dagashiya mittlerweile aus der Mode geraten sind, sind sie auch heute noch ein nostalgisches Symbol für Japans Showa-Ära (1926 bis 1989), die sich durch einen ökonomischen Boom und Japans Rolle als Weltmacht nach dem Zweiten Weltkrieg auszeichnet. Im Einkaufs- und Unterhaltungsdistrikt Odaiba in Tokio gibt es zum Beispiel die Daiba-1-Chome-Einkaufsstraße. Diese ist im Stil der Showa-Ära gehalten und bietet dutzende dagashiya-Läden, aber auch Retro-Kulissen wie Telefonzellen und Zugmodellen zum Fotos machen. Das Konzept der Gachapon-Maschinen stammt aus genau dieser Zeit, auch wenn sich die Inhalte geändert haben.

Heute findet man in Gachapon-Automaten hauptsächlich Merchandise zu beliebten Film-, Manga- oder Videospiel-Franchises. Zu ihrer Einführung steckten in den Kapseln omake, Werbegeschenke, die ursprünglich zusammen mit Süßigkeiten verkauft wurden. Typischerweise waren omake Aufkleber mit Buchstaben des Alphabets oder Wackelbilder. 1961 startete Süßwarenhersteller Morinaga eine Kampagne mit Disney, in der Donald Duck Verpackungen zierte und auch die Schokolade nach der Matrosenente gestaltet wurde.

Verpackung und Inhalt einer Packung Meiji Marble Chocolate
Auch 2024 gibt es in Supermärkten noch die Marble Chocolate von Meiji zu kaufen. Mittlerweile allerdings häufig ohne omake. (Quelle: Eigenes Foto)

Anime-Charaktere als Marketingstrategien

Bis heute prägend für das Charakter-Merchandising wurde die Zusammenarbeit von Meiji mit dem Science-Fiction-Manga Astro Boy. 1963 begann Meiji eine landesweite Stickerkampagne, in der zwei der Kappen, die als Deckel für die Verpackungskartons seiner Schokoladen dienten, per Post eingereicht werden konnten. Als Gegenleistung erhielten die Einsender*innen ein Astro-Boy-Stickerset. In nur drei Monaten erhielt Meiji laut Marc Steinbergs Buch Anime’s Media Mix: Franchising Toys and Characters in Japan 3,7 Millionen Sticker-Anfragen.

Der Boom seiner Marble Chocolate machte Meiji zum größten Schokoladenhersteller der 60er Jahre. Das Zusammenspiel aus Schokoladen-Boom und dem Erfolg sowohl des Astro-Boy-Mangas als auch der Anime-Verfilmung verwandelte Leser*innen und Zuschauer*innen in Meiji-Konsument*innen. Heute ist Charakter-Merchandise so beliebt, dass Gachapon keine Schokolade mehr benötigt ist, um erfolgreich zu sein – der Inhalt der Kapseln allein ist Kaufmotivation genug.

Die Professionalisierung von Gachapon

1977 lizenzierte Bandai Namco das Wort gashapon für seine eigenen Maschinen. Auch andere Firmen in Japan sollten durch ihre Miniaturfiguren bekannt werden, beispielsweise TOMY oder Kaiyodo. Mittlerweile ist Gachapon sogar ein Stück weit institutionalisiert. Rund 100 Kilometer östlich von Kyoto stellt das Kaiyodo-Figurenmuseum auch Gachapon-Preise aus den letzten Jahrzehnten aus. Mit der Zeit wurden diese Figuren immer komplexer und so detailreich, dass sie auch im Kleinstformat wiedererkennbare ikonische Posen darstellen und dynamische Bewegungen suggerieren.

Spielzeugfiguren aus der TV-Serie Heidi
Ausgestellte omake-Preise im Kaiyodo-Museum. Obwohl viele Heidi mit Deutschland in Verbindung bringen, kommt die Serie tatsächlich aus Japan – Heidi als Anime zu bezeichnen wäre also nicht falsch. (Quelle: Eigenes Foto)

"Gachapon sind mittlerweile sehr professionell und haben viel mehr diese Verbindungen zu großen Franchises, Charakteren und Merchandise", sagt Professor Hartzheim. Veränderungen im Gachapon-Segment sind auch heute noch auszumachen. "Mittlerweile sind nicht mehr nur noch Kinder die Hauptzielgruppe. Es gibt auch professionelle Sammler*innen, oder Erwachsene, die nostalgisch sind. All das hat eine Art Gacha-Wirtschaft erschaffen, in der die Preise nicht mehr nur Charaktere sind."

Hartzheim bezieht sich auf eine Art neue Generation von Gachapon-Preisen ohne direkten Popkultur-Bezug. Neben klassischen Miniaturfiguren gibt es in den allgegenwärtigen Automaten jetzt viele andere, teils skurrile Preise. Von Mini-Instant-Ramen als Anhänger, Insekten, kleinen, aus Bussen bekannten STOP-Knöpfen, bis hin zur Kurbel der Gachapon-Maschine selbst ist alles dabei. Hartzheim beschreibt sie als "einzigartige Objekte, die eine Miniaturform annehmen."

Zwischen Sammelobjekt und Kunst 

Auch im Kaiyodo-Museum findet man neben den typischen Miniaturfiguren noch andere Miniaturmodelle als Gachapon-Preise: Noh-Masken, Modelle von bekannten japanischen Schlössern, Miniaturformen von ägyptischen und römischen Artefakten. Sie wirken kunstvoll – aber kann man hier schon von Kunst sprechen?

Mit Miniatur als Kunst hat Japan schon seit spätestens dem 17. Jahrhundert Erfahrung. Netsuke-Miniaturfiguren wurden zum Beispiel aus Elfenbein und Holz geschnitzt und primär als Anhänger genutzt, um größere Gegenstände an einem Kimono zu befestigen. Gachapon-Miniaturfiguren sind kein direktes Resultat der Netsuke-Kunst. Aber es gibt eine gewisse kulturelle Kontinuität, nach der heutzutage junge Erwachsene ihre Kleidung oder Taschen mit Gachapon-Anhängern dekorieren.

Bryan Hikari Hartzheim sieht eher Parallelen zu shokuhin sanpuru, frei übersetzt "Musteressen" – Plastiknachahmungen von Essen. Diese Imitate dienten primär zur Ankurbelung der Umsätze in Restaurants nach dem Zweiten Weltkrieg. "Es ist eine sehr kommerzialisierte, reproduzierbare und kommodifizierte Kunstform, die gewisse handwerkliche Fähigkeiten voraussetzt", so Hartzheim.

Auf die Frage, ob man Gachapon auch Kunst nennen könnte, reagiert er zögernd. "Ich sehe sie definitiv als Handwerk. Sowohl Gachapon als auch shokuhin sanpuru setzen eine Handwerksmentalität voraus. Sie sind Gewerbe, die eine gewisse Fähigkeit fordern und daher auch mit einer entsprechenden Ausbildung verbunden sind."

Gachapon-Maschinen in einem Museumsshop
Der Museumsshop im Kaiyodo-Museum, dessen Gachapon-Maschinen den halben Shop ausmachen. (Quelle: Eigenes Foto)

Gachapon oder shokuhin sanpuru sind für Hartzheim also mehr Reproduktion als Kunst. "Die Freude an ihnen ist das Betrachten des Objekts. Das Handwerk liegt darin, bestimmte Objekte für eine breite Masse zugänglich zu machen", so der Universitätsprofessor. Gerade mit Blick auf den größten Gachapon-Betreiber Bandai Namco ist Gachapon primär Unterhaltung, entstanden in einem Dickicht aus Marketing, Kollaborationen und Lizenzprodukten.

Geschäftsmodell Gachapon

Charakter-Merchandising und Marketingstrategien auf der einen, Handwerk und Nostalgie auf der anderen Seite: Gachapon stehen in einer spielerischen Spannung zwischen Kunst und Konsumobjekt. Für letzteres sprechen die Zahlen: Bandai Namco hat zwischen 1977 und 2023 rund vier Milliarden Gachapon verkauft, das dazugehörige Geschäftssegment brachte der japanischen Firma im vergangenen Fiskaljahr rund 260 Millionen US-Dollar ein.

Die physische Präsenz der Automaten ist aber auch ein Gegengewicht zur schnelllebigen digitalen Welt und beansprucht wortwörtlich viel Raum. Vielleicht ist es diese Räumlichkeit, die auch heute noch Menschen fasziniert – ganz abseits vom digitalen Kapselwürfeln in Genshin Impact und Konsorten.