Im postapokalyptischen Boston sind sechs Minuten 250 US-Dollar wert

Seit Jahren verzweifelt die Speedrunning-Community von Fallout 4 an einem augenscheinlich unmöglichen Trick. Wer den aufspürt, erhält ein Kopfgeld. Dahinter steckt mehr als nur der Wunsch nach neuen Bestzeiten.

Im postapokalyptischen Boston sind sechs Minuten 250 US-Dollar wert
Quelle: Bethesda Softworks / Screenshot von Kdarrow lizensiert unter CC BY-NC-SA 3.0

Speedrunner*innen, so scheint es oft, kennen Spiele besser als deren Entwickler*innen. Bei regelmäßigen Marathon-Events wie Games Done Quick oder ESAMarathon schauen ihnen hunderttausende Menschen dabei zu, wie sie noch so kleine Fehler im Programmiercode für ihre Zwecke nutzen. Zum Beispiel, indem sie die Kamera in Dark Souls geschickt manipulieren, um sich an verriegelten Türen vorbeizumogeln. Manche Tricks lassen aber selbst erfahrene Rekordjäger*innen verzweifeln. Das weiß auch tomatoanus.

3.000 Stunden investiert der Speedrunner, der seinen richtigen Namen nicht nennen möchte und vor seiner Vollzeit-YouTube-Karriere als Chemieingenieur arbeitete, laut eigener Angaben seit 2017 in sein Hobby. Seine Spezialität ist Fallout. Bei Awesome Games Done Quick rast er 2020 in knapp zwei Stunden durch das postapokalyptische Rollenspiel – nicht nur durch eins, sondern hintereinander durch Fallout 1, 2, 3, New Vegas und 4. Trotzdem scheitern er und seine Community seit Jahren daran, die sogenannte Memory-Den-Sequenz in Fallout 4 zu überspringen. Deswegen hat tomatoanus eine Belohnung von 250 US-Dollar für die Person ausgeschrieben, die die Lösung findet.

Einer der bekanntesten Speedrunning-Tricks ist der Barrier Skip aus The Legend of Zelda: Wind Waker.

Tausche Glitch gegen Monatsgehalt

"Ich wollte nie wieder diesen gottverdammten Abschnitt ertragen. Auch wenn er eine wunderbare Toilettenpause ist", sagt tomatoanus. Im Januar 2017, seinem ersten Monat als Speedrunner, hört er erstmals von dem schon damals berüchtigten Problem. Die Community möchte eine Hauptquest, die sich im VR-Kino Memory Den abspielt, zur Verbesserung des Fallout-4-Speedrunning-Rekords überspringen. Eine Quest, die sie jedes Mal zu sechs Minuten voller Zuhören, Rumstehen, Däumchendrehen zwingt – ein Albtraum für Bestzeiten. Wie, geschweige denn ob, ein kompletter Skip überhaupt möglich ist, weiß aber niemand.

Geld für das Aufspüren von Glitches auszugeben, ist selten im Speedrunning, aber nicht unerhört. Bountys, Kopfgelder also, nennen sich die Prämien. Ihre Summen und Ziele hängen allein von den Ausschreiber*innen ab, der Sinn ist aber immer derselbe: Sie sollen mehr Aufmerksamkeit auf vermeintlich unlösbare Probleme richten. Das können 300 US-Dollar für einen Glitch sein, der noch die letzten 15 Sekunden aus Dishonored quetscht. Oder 1.000 US-Dollar für einen kurzen Teleport im sonst durchoptimierten Super Mario 64, den seit zehn Jahren niemand replizieren konnte. Oder gleich 2.000 US-Dollar für das Finden des Skips eines unliebsamen Level in Titanfall 2, der Speedrunner*innen ganze sechs Minuten kostet.

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"Grundsätzlich ist Speedrunning ein Gemeinschaftsprojekt. Es gibt den Wettkampf, aber unser aller Ziel ist es, niedrige Zeiten zu erreichen", sagt tomatoanus. "Wenn man sich eine Bounty leisten kann, ist das hervorragend, um Menschen und ein Hobby zu unterstützen, die dir viel bedeuten, und an einer Lösung für alle zu arbeiten."

Sechs Jahre für sechs Minuten

Auf mehr Aufmerksamkeit hofft auch tomatoanus, als er im Frühjahr 2018 selbst eine Bounty ausschreibt. Von den Experimenten eines anderen Runners inspiriert, findet er binnen weniger Wochen einen Trick, der im Memory Den immerhin 25 Sekunden einspart. "Ich hatte aber ziemliches Anfängerglück", gibt er zu. Bis heute sei ihm keine größere Einsparung  gelungen, und auch seine überschaubare Community kommt trotz großem Einsatz nicht weiter.

tomatoanus wühlt etwa mit dem Creation Kit, einem Mod-Tool für Bethesda-Spiele, nach Hinweisen in der Fallout-Engine. Mit befreundeten Runner*innen sucht er alternative Routen, die die Memory Den ganz vermeiden. Manche versuchen sogar, eigens geschriebenen Code in Fallout 4 zu injizieren. "Es ist ein sehr schwieriges Thema, bei dem wir immer und immer und immer wieder gegen die Wand gerannt sind", klagt tomatoanus.

Und wofür die Mühe? Ein erfolgreicher Memory-Den-Skip würde, so tomatoanus, den Run drastisch beschleunigen und den Leaderboards neues Leben einhauchen. Nicht zuletzt, weil allein die Vorstellung von Runs ohne den verhassten Abschnitt attraktiv klingt. Noch wichtiger aber: Die Entdeckung wäre ein Ereignis und "würde mehr Öl in das Feuer genießen, um das wir uns als Community versammeln", so der Speedrunner. "Das ist alles, was eine Community wollen kann."

tomatanus' Spezialgebiet ist Fallout, wie er unter anderem bei Awesome Games Done Quick 2020 demonstriert. (Quelle: Joey Seabaugh / Awesome Games Done Quick lizensiert unter CC BY-NC-SA 4.0)

Der wahre Skip waren die Freund*innen auf dem Weg

Bis jetzt hat selbst die Aussicht auf Bezahlung keine Lösung hervorgebracht. tomatoanus glaubt dennoch daran, seine 250 US-Dollar irgendwann loszuwerden. Zum einen habe die mittlerweile gut achtjährige Jagd genug Indizien zutage gefördert, die für die Existenz eines Memory-Den-Skips sprechen. Zum anderen hat er einen Beweis, dass sich selbst Weiße Wale irgendwann fangen lassen: den sogenannten Barrier Skip.

"Der ist sowas wie eine Geschichte aus der Folklore des Speedrunnings", sagt tomatoanus mit einem hörbaren Lächeln. 14 Jahre lang versuchen Speedrunner*innen, eine unsichtbare Mauer in The Legend of Zelda: Wind Waker zu überspringen. Als der zwischenzeitlich mit über 1.000 US-Dollar dotierte Trick im Juli 2019 gefunden wird, verkürzt er den bisherigen Weltrekord in nur einem Monat um zwei Stunden, mehr als die Hälfte.

Den restlichen Weg wird die Speedrun-Community von Fallout 4 ohne tomatoanus gehen müssen. Die Bounty ist weiterhin aktiv, doch der Speedrunner hat das Kapitel Memory Den vorerst geschlossen. Ein YouTube-Kanal als Vollzeitjob, Beziehungen, zwei Hunde, dazwischen fehle die Zeit für die Jagd und eigene Runs. Eine Rückkehr könne er sich dennoch vorstellen, falls es der Terminkalender zulässt. Fortschritte zu sehen, der Wettstreit mit sich selbst, das motiviere ihn weiterhin. "Klar ist die ewige Suche anstrengend. Aber die gehört für mich dazu."

Trotz hunderter ergebnisloser Stunden, Frustration und Ratlosigkeit bereut er keine Sekunde. "Ich hatte so viel Spaß im Moment, mit den Menschen, die ich Freund*innen nenne. Die Zeit hat uns zusammengeschweißt", sagt er. "Ich blicke gern darauf zurück. Auf all die kleinen Entdeckungen, wegen denen wir so aufgeregt waren, auch wenn sie ins Leere führten."

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